In dem Video „Wirklichkeiten in denen wir leben“ werden nacheinander vier Ehepaare in ihrem häuslichen Kontext vorgestellt1. In allen vier Sequenzen tastet sich Nadine Arbeiter mit der Kamera an die jeweilige Szene heran und lässt das Kameraauge langsam über die Zeichnung wandern, so dass sich erst im Kopf des Betrachters anhand der gezeigten Ausschnitte nach und nach das gesamte Bild zusammensetzt. Unterlegt sind die Szenen von einer rhythmischen, aber dennoch merkwürdig monoton wirkenden Musik, welche die Künstlerin eigens für das Video komponiert hat.
So entdeckt der Betrachter in der ersten Szene Reginald Fleet, den Präsidenten der Firma Sou- thern California Houses, mit Frau und Tochter auf der Terrasse eines Vultee House-Prototypen. Fleet zog mit seiner Familie in das Fertighaus ein, um potenziellen Käufern zu demonstrieren, wie das Leben in einem modernen, vorfabrizierten Heim aussehen könnte. Indem er sein Haus für Interessenten öffnete, stellte er sein Leben wie in einem Hochglanzmagazin aus. Er entsprach damit dem Wunsch des Käufers, zusammen mit dem fertigen Haus eine ideale Familie und häusliches Glück zu erwerben. Die Idylle erweist sich jedoch als trügerisch: In der Konstellation der drei Protagonisten im Bild tritt ihre Isolation voneinander deutlich zu Tage. Die Sprach- und Kontaktlosigkeit, das Nebeneinander statt Miteinander der Inszenierung wird besonders im Kontext der drei folgenden Szenen evident. Nacheinander werden drei Paare gezeigt: im Wohnzimmer beim Fernsehen, im Bett beim Frühstü- cken und im Garten beim Grillen. Alle drei Szenen stellen alltägliche Handlungen im familiären Kon- text dar. Wie Familie Fleet scheinen auch die übrigen Ehepaare gutsituiert und in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld etabliert zu sein. Arbeiter verwendet als Vorlagen für diese drei Szenen Fo- tografien von Larry Sultan3 und Herlinde Koelbl4 sowie ein Filmstill aus „Die Reifeprüfung“5. Durch Zwischentitel, welche die jeweiligen Szenen einleiten, wird der Bezug zu den fotografischen bzw. filmischen Vorlagen hergestellt: Gezeigt werden das Paar Vincent und Victoria Poklewski, Larry Sultans Mutter und Vater sowie Benjamin Braddocks Eltern aus „Die Reifeprüfung“.
In der Zusammenstellung der einzelnen Szenen manifestiert sich ein traditionelles Familien- und Geschlechterbild. Inszeniert Reginald Fleet in der Anfangssequenz eine verkaufswirksame Familienidylle, performen die drei folgenden Ehepaare ihre alltäglichen Handlungen, ohne sich ih- rer Rolle zu jedem Zeitpunkt bewusst zu sein. Durch eine auf künstlerischen Mitteln basierenden Kontextverschiebung erreicht die Künstlerin eine detaillierte Analyse sowohl alltäglicher als auch filmischer Rollen. Zusätzlich generiert die comicartige Verfremdung eine mediale Transformation, anschließend werden die statischen Bilder durch eine Kamera in Bewegung und miteinander in Beziehung gesetzt. Die von der Künstlerin verwendeten Vorlagen werden so- mit entkontextualisiert – lediglich in den Zwischentiteln bleibt ein Teil des Kontex- tes erhalten – und in der Zusammenstellung durch das Medium Video neu kontextualisiert. Nadine Arbeiter findet und erfindet Geschichten, produziert, verwandelt und interpretiert sie und schafft auf diese Weise neue narrative Strukturen.
(Dieser Text ist ein Auszug aus: Kühn, Corinna und Tewordt, Britta: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Köln 2012)